Wenn Obstkorb, Wuzzler und Jahreskarte nicht mehr ziehen: Die Herausforderung des Fachkräftemangels zwingt Unternehmen dazu, zwischen zwei entgegengesetzten Ansätzen zu wählen: intensives Recruiting oder verstärktes Bemühen, bestehende Mitarbeiter:innen zu halten.
In diesem Artikel geht es darum, warum es für Unternehmen immer wichtiger wird, sich auf die Mitarbeiterbindung zu konzentrieren, anstatt sich ausschließlich auf die Suche nach neuen Talenten zu konzentrieren.
Halten oder suchen?
Der Fachkräftemangel hat in vielen Unternehmen zu zwei entgegengesetzten Reaktionen geführt: während sich Unternehmen einerseits auf das Recruiting neuer Mitarbeiter:innen fokussieren, bemüht man sich andernorts mit allen Mitteln, bestehende Mitarbeiter:innen zu halten.
Wo die Jagd nach neuen Talenten im Vordergrund steht, wird oft vernachlässigt, wie entscheidend es ist, bestehende Mitarbeiter:innen zu binden. Es ist ein Dilemma: Unternehmen suchen nach neuen Mitarbeiter:innen, verlieren aber gleichzeitig wertvolle Mitarbeiter:innen, weil sie deren Bedeutung nicht erkennen und wertschätzen. Oft zahlen Unternehmen neuen Mitarbeiter:innen mehr, um sie anzuwerben, und es entsteht ein ungewollter Gap zur Vergütung der bestehenden Mitarbeiter:innen.
Im zweiten Fall besteht die häufige Praxis darin, Mitarbeiter:innen mit verschiedenen Anreizen wie Fitness-Centern und U-Bahn-Jahreskarten zu locken, um ihre Bindung ans Unternehmen zu stärken. Diesem Ansatz liegt auch ein Irrtum zugrunde. Eine Arbeitsbeziehung kann nicht auf Dauer einseitig funktionieren, ebensowenig wie eine Freundschaft oder eine Beziehung. Wenn eine Seite dauerhaft mehr gibt als die andere, endet die Beziehung zwangsläufig irgendwann.
Überhäuft das Unternehmen die Mitarbeiter:in mit Anreizen, obwohl diese eigentlich gehen möchte, führt das dazu, dass das Unternehmen eine wenig motivierte, stagnierende Mitarbeiter:in behält. In Gehaltsverhandlungen wird nicht selten das Spiel gespielt, in dem die Mitarbeiter:in kündigt, die Führungskraft sie zurückhaben möchte und nun bereit ist, mehr zu zahlen.
Retention: Eine Frage der Beziehung
Ich möchte den Begriff „Mitarbeiterbindung“ dem Grundsatz nach in Frage stellen, da er eine einseitige Vorstellung von Beziehung vermittelt. Geht es im Arbeitsleben nicht vielmehr um das Gestalten und Pflegen von Beziehungen? Eine gesunde Arbeitsbeziehung kann nie einseitig sein. Auf Dauer funktioniert es nicht, wenn sich nur eine Seite bemüht. Warum gelingt es so schwer, die Beziehung zwischen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen auf Augenhöhe zu führen? Dies liegt auch in den Machtverhältnissen begründet.
In der Vergangenheit mussten sich Kandidat:innen im Bewerbungsgespräch beweisen und um eine Stelle „bitten“. Unternehmen hatten die Macht, Bewerber:innen und Mitarbeiter:innen mussten sich unterordnen. Mittlerweile haben sich die Machtverhältnisse verschoben, und Bewerber:innen wissen, dass sie vielerorts am längeren Ast sitzen und so mehr fordern können. Dieses Ungleichgewicht führt dazu, dass offene Kommunikation vermieden wird, um Mitarbeiter:innen nicht zu verstimmen.
Oftmals fehlt es den Unternehmen an Konfliktlösungskompetenz. Ähnlich wie in modernen Eltern-Kind-Beziehungen werden den Mitarbeiter:innen Hindernisse aus dem Weg geräumt, anstatt Probleme anzusprechen und zu lösen. Man möchte sich und die Mitarbeiter:innen vor unbequemen Situationen bewahren, damit sie nicht auf die Idee kommen, das Unternehmen zu verlassen. Gibt es dennoch schwierige Themen zu klären, wird häufig die HR-Abteilung als Überbringer schlechter Nachrichten eingesetzt.
Vor nicht allzu langer Zeit wurde ich als Interim Recruiterin von einem großen Unternehmen beauftragt, um eine vakant gewordene Stelle einer Sachbearbeiter:in in einer Finanz-Abteilung zu besetzen. Ich ging davon aus, das dies eine schwierige und langwierige Suche würde.
Zu meiner großen Überraschung bewarben sich innerhalb des Unternehmens gleich mehrere Mitarbeiter:innen um die Position und überschlugen sich in ihren Anschreiben vor Freude, dass endlich eine Stelle in der Abteilung frei sei. Ich überprüfte die Bewerbungen, ein Irrtum war ausgeschlossen. Ich war neugierig geworden und suchte den Leiter der Abteilung auf. Wie schaffte er es, dass sich Menschen um eine Stelle in diesem eher uninteressanten Bereich bewarben? Was war sein Geheimnis?
Der Leiter schüttelte den Kopf. Es sei gar nicht sein Verdienst, er habe einfach ein sehr gutes und motiviertes Team. Ich fand heraus, dass in seiner Abteilung ein hohes Maß an Vertrauen herrschte. Dies wiederum war das Ergebnis von langjähriger Kommunikation auf Augenhöhe zwischen Führungskraft und Mitarbeiter:innen. Darüberhinaus hatte er eine klare Struktur für Aufgaben, Ziele und Verantwortlichkeiten geschaffen. Gemeinsam mit dem Team, wie er betonte. Mir war klar, Retention Management ist nichts anderes als Führungskultur.
Es gibt aber auch andere Beispiele:
In einem anderen Fall war ich in einem multinationalen Konzern als Interim HR Leitung tätig. Es war beschlossen worden, die Standorte mehrerer Länder zusammenzulegen, um Synergieeffekte zu erzielen, wie es hieß, letztlich aber um den Headcount zu reduzieren.
Dies hatte nicht nur den Abgang der Personen zur Folge, die man abbauen wollte, sondern einen massiven Abgang weiterer, wertvoller Mitarbeiter:innen, die man hätte halten wollen. Was war passiert? In meinen Gesprächen fand ich heraus, dass die Layoffs in einer auffallend respektlosen Weise durchgeführt worden waren. Zum Abbau des Personals, hatte man für schwierige Fälle einen Abgesandten aus der Konzernzentrale eingeflogen. Die Kündigungsgespräche, die die Mitarbeiter:innen zum Teil mit einer komplett fremden Person führen mussten, waren zusätzlich von sprachlichen Barrieren begleitet.
Die übrigen Mitarbeiter:innen hatten so erfahren, wie es um die Kultur des Konzernes und der Wertschätzung gegenüber verdienten Mitarbeiter:innen tatsächlich stand. Viele entschieden sich daher gegen einen Verbleib im Unternehmen. Hier zeigte sich, dass auch die Kündigung einer Mitarbeiter:in letztlich eine Beziehungssituation ist, die ein Unternehmen bewältigen muss. In diesem Fall haben die verbleibenden Mitarbeiter:innen die Bindung zum Unternehmen verloren.
4 Strategien für erfolgreiche Retention
1. Beziehung gestalten
HR sollte nicht nur beim Recruiting, sondern auch bei der Bindung von Mitarbeiter:innen eine aktive Rolle spielen. Schulungen, Coaching und Sparring können sowohl Führungskräfte als auch Mitarbeiter:innen befähigen, Beziehungen konstruktiv zu gestalten.
2. Kommunikation
Unternehmen, die sich ihrer eigenen Kommunikationskultur bewusst sind und gegebenenfalls Muster überdenken, gelingt es besser, eine konstruktive und wertschätzende Kommunikation auf Augenhöhe zu entwickeln und zu fördern.
3. Konfliktmanagement
HR kann Unternehmen auch dabei unterstützen, eine Fehlerkultur zu entwickeln und Konflikte als Chancen für Nähe und Wachstum zu betrachten. Anstatt Konflikte für die Mitarbeiter:innen zu lösen, hat es sich als zielführender herausgestellt, wenn HR die Mitarbeiter:innen im Umgang mit Konflikten begleitet.
4. Operative Ziele
Unternehmen tun gut daran sicherzustellen, dass kurzfristige Ziele für die Mitarbeiter:innen klar sind und in regelmäßigen Mitarbeitergesprächen thematisiert werden. Auch hier ist eine unterstützende Rolle der Führungskraft auf Augenhöhe wichtig. Diese Ziele sollten in die Unternehmensstrategie integriert sein. HR kann dazu beitragen, Lösungswege zu entwickeln, um diese Ziele gemeinsam zu erreichen.
Zusammenfassung
Die Beziehungsgestaltung ist eine entscheidende Komponente in der heutigen Arbeitswelt. Unternehmen müssen verstehen, dass es nicht ausreicht, nur nach neuen Talenten zu suchen. Die Pflege von Beziehungen zu bestehenden Mitarbeiter:innen ist genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger. Eine gesunde, auf Augenhöhe geführte Beziehung zwischen Arbeitgeber:in und Arbeitnehmer:in ist der einzig wirksame Schlüssel zur langfristigen Mitarbeiterbindung.
Die Autorin
Tanya Pagani ist Personalmanagerin mit über zwei Jahrzehnten Erfahrung im Bereich Training und Entwicklung mit einer ausgeprägten Leidenschaft für die Förderung von Talenten. Ihre Freizeit verbringt sie mit ihrer italienisch-österreichischen Familie in ihrer zweiten Heimat Triest oder auf Reisen.