Kann uns die KI die repetitive HR-Arbeit beim Onboarding abnehmen und so Ressourcen für echten Mehrwert schaffen?

Diesmal wollten wir wissen, ob sich die repetitiven, fehleranfälligen und zeitraubenden Aufgaben rund um das Onboarding mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) lösen lassen.
Darüber habe mit dem KI-Experten Richard Mohr diskutiert. Unsere Grundidee lautet, dass wir Automatisierung dort einsetzen wollen, wo wenig menschliche Wertschöpfung entsteht. Damit soll für uns HR-Profis wieder Zeit frei werden für wertvolle, zwischenmenschliche Aufgaben.
Warum Onboarding ein Problem ist
Onboarding war nie wirklich einfach. Die typischen Schmerzpunkte existieren schon lange: Formulare, Unterschriften, Scans, redundante Dateneingabe, abstimmungsintensive Abläufe mit IT, Zugangssystemen und Personaleinrichtungen. Der Unterschied heute ist nicht, dass die Probleme grundsätzlich größer geworden sind — sondern dass sie sichtbarer, teurer und in vielen Unternehmen schwerer zu stemmen sind.
Wesentliche Treiber der Situation:
- Steigende Komplexität: Mehr Systeme, mehr Compliance‑Anforderungen, mehr Security‑Trainings, mehr Rollen, die korrekt berechtigt werden müssen.
- Personalknappheit in administrativen Bereichen: HR‑Teams sind oft kleiner geworden; dieselbe Menge an Arbeit bleibt. CFOs drücken auf Effizienz.
- Neue Kommunikationskanäle: Kandidaten schicken Infos via E‑Mail, WhatsApp, Instagram, Sprachnachrichten oder Fotos — das bricht klassische Prozesse auf, erzeugt aber gleichzeitig maschinenlesbare Artefakte.
- Versteckte Informationen in E‑Mails: Wissens-Silos entstehen, weil viele relevante Informationen nur in Mailverläufen stecken und mühsam recherchiert werden müssen.
Wenn eine neue Mitarbeiter:in eingestellt werden soll, benötigt HR 50–70 Datenpunkte: Anschrift, Bankverbindung, Sozialversicherungsnummer, Führerschein‑Bild, Meldezettel, Versicherungsstatus usw. Viele dieser Informationen kommen in verschiedenen Formaten und Kanälen, teilweise mehrfach und oft unvollständig — und währenddessen ist die Person formal noch gar nicht an das Unternehmen „gebunden“ und kann jederzeit abspringen. Das macht Prozesse instabil und aufwändig.
„Menschen sollten keine Roboter-Arbeit machen.“
Richard Mohr, KI-Experte
Die Lösung: KI‑Sinne mit drei Sinnen
Die Idee, KI im Onboarding einzusetzen, ist inzwischen keine Hexerei mehr: Es ist eine Kombination aus klarer Problemanalyse, pragmatischer technischen Umsetzung und ehrlichem Change Management. Wenn wir Automatisierung dort einsetzen, wo sie repetitive, unbefriedigende Arbeit ersetzt, gewinnen Menschen Zeit für das, was wirklich zählt: wertschätzende Kommunikation, persönliche Einarbeitung und Aufbau von Bindung.
KI macht Prozesse sinnorientierter statt kanalorientierter. Damit lässt sich nicht nur Zeit sparen — es entsteht auch ein enormer Wert für Kandidaten und die Arbeitgebermarke. Wichtig ist: Schnell anfangen, klein anfangen, iterieren — und dabei immer menschliche Kontrolle und ethische Leitplanken im Blick behalten.
Um Onboarding mit KI pragmatisch anzugehen, hilft ein technisches Grundmodell: KI liefert drei zentrale Fähigkeitsgruppen — quasi die Sinne des Systems:
Die drei Sinne der KI
- Language (Sprache & Text): Versteht E‑Mails, Chats, Bewerbungsanschreiben, Formulare und generiert automatisierte Antworten, E‑Mails oder Textbausteine.
- Vision (Sehen): Analysiert Bilder und Dokumente wie Fotos vom Führerschein, Meldezettel, unterschriebene PDFs — erkennt Felder und Inhalte automatisch.
- Think & Learning (Vorhersagen & Klassifikation): Klassische Machine‑Learning‑Aufgaben: Wie wahrscheinlich springt jemand ab? Welche Dokumente sind fehlerhaft? Welche Schritte fehlen?
Diese drei Fähigkeiten kombiniert geben dem Prozess „Sinne“: Das System „sieht“ Dokumente, „versteht“ Text und „denkt“ in Wahrscheinlichkeiten. Damit wird ein Onboarding‑Prozess nicht mehr primär kanal‑ oder systemabhängig, sondern inhalts‑ und kenntnisgesteuert.
Wie viel Einsparung ist realistisch?
Aus unseren Erfahrungen und Praxisgesprächen lassen sich konservative Schätzungen ableiten: In vielen Fällen sind bis zu 80 % Einsparung bei den administrativen Routineaufgaben erreichbar. Das ist kein generelles Versprechen, sondern eine Orientierung — abhängig von:
- Der vorhandenen Systemlandschaft und Schnittstellen.
- Der Strukturierung der Vertragsbausteine.
- Dem Umfang der zu verarbeitenden Dokumenttypen und Kanäle.
Die Erfahrung zeigt, dass der Initialaufwand alles andere als trivial ist. Die Einrichtung, das Datenmapping, das Training der Modelle und die Integration in bestehende HR‑ und Payroll‑Systeme erfordern Arbeit. In der Regel ist jedoch innerhalb von etwa drei Monaten ein erstes brauchbares MVP (Minimum Viable Product) realistisch — vorausgesetzt, die Voraussetzungen sind nicht extrem verschlossen.
Praktischer Onboarding‑Workflow mit KI
Stell dir das so vor, als hätte jede HR‑Ressource ihren eigenen digitalen Butler. Du brauchst nicht jede E‑Mail manuell durchsuchen oder jeden Anhang öffnen — das System macht das für dich und klingelt nur dann, wenn wirklich etwas fehlt.
Das Ziel ist, dass nicht mehr jede Mail von HR einzeln bearbeitet wird, sondern nur noch sinnvolle Benachrichtigungen erscheinen. So kann sich HR auf die Fälle konzentrieren, bei denen menschliches Eingreifen wirklich nötig ist.
Typischer Ablauf in einer KI‑gestützten Lösung:
- Initialer Check: Die KI scannt alle Kommunikationskanäle (E‑Mail, Document‑Storage, ggf. WhatsApp‑Anbindung) und extrahiert vorhandene Datenpunkte.
- Dokumenten‑Ingestion: Fotos und PDFs werden via Vision analysiert — Felder werden erkannt, Daten extrahiert, Plausibilitätschecks durchgeführt.
- Status‑Cockpit: Ein Dashboard zeigt Prozent‑Status: z.B. „4 von 6 Dokumenten vorhanden“, „Personalstammanlage ausstehend“.
- Automatisierte Kommunikation: Für Standardanfragen generiert das System Vorschläge für E‑Mails oder verschickt sie mit einem Klick; HR muss nicht jede E‑Mail selbst tippen.
- Vertragsgenerierung & Änderungsmanagement: Verträge werden automatisch befüllt, Änderungswünsche (Startdatum, Kündigungsfrist) werden per Chat oder Notiz angestoßen und protokolliert.
- Übergabe an Payroll & IT: Wenn alle Daten vollständig sind, werden Personalstamm, Payroll‑Daten und Zugänge automatisch provisioniert.
- Vorbereitung des ersten Arbeitstages: Laptop, Zugangschips, E‑Learning und Einführungsmaterial werden automatisch bestellt und terminiert.
Human‑in‑the‑Loop: zwischen Automatisierung und Kontrolle
Ein zentrales Sicherheitsprinzip ist der „Human‑in‑the‑Loop“ (HITL): Automatisiere alles, was zuverlässig automatisierbar ist, aber baue flexible Kontrollpunkte für kritische Inhalte ein. Beispiele:
- Regel: Behörden‑ oder amtliche Dokumente werden am Anfang manuell geprüft.
- Stichprobenkontrollen in den ersten Wochen des Betriebs, um Halluzinationen und Fehlklassifikationen zu erkennen.
- Frei konfigurierbare Schwellenwerte: Bei geringer Vertrauenswahrscheinlichkeit meldet das System automatisch zur manuellen Prüfung.
Human‑in‑the‑Loop reduziert das Risiko von Fehlern und steigert Vertrauen in die Lösung — besonders in sensiblen Bereichen wie Vertragsinhalten oder rechtlichen Bestimmungen.
Hosting, Datenschutz und technische Architektur
Ein häufiger Einwand ist der Datenschutz: Wo läuft das Sprachmodell, wer sieht die Daten und wie DSGVO‑konform ist das? Praktische Optionen:
- Cloud‑Hosting (z. B. Microsoft Azure): Bietet weltweit anerkannte Sicherheitszertifikate und ist für viele Unternehmen eine sichere, konforme Wahl.
- Lokales Hosting (z. B. österreichische Rechenzentren): Kosten sind tendenziell höher, aber für besonders datensensible Unternehmen oder regulatorische Anforderungen ist das eine Option.
Die Entscheidung hängt von Unternehmensrichtlinien, regulatorischen Anforderungen und Budget ab. In jedem Fall sollten Zugriffskontrollen, Verschlüsselung und Auditing Teil des Designs sein.
Risiken und typische Fehler
Wenn KI falsch eingesetzt wird, kann sie Schaden anrichten. Ein Klassiker ist das Amazon‑Recruiting‑Beispiel: Ein Modell wurde so trainiert, dass historische Biases reproduziert und sogar verstärkt wurden — das Ergebnis war, dass nur bestimmte Bewerberprofile bevorzugt wurden.
Typische Fehlerquellen
- Automatisierung an den falschen Stellen: z.B. bei der direkten Kandidatenkommunikation, wo persönliche Wertschätzung gefragt ist, kann eine automatisierte Voice‑Message mehr Schaden als Nutzen anrichten.
- Mehrkanal‑Chaos: Wenn man WhatsApp & Co. zulässt, aber nicht automatisiert verarbeitet, führt das zu zusätzlicher Komplexität statt zu Erleichterung.
- Zu hohe Erwartungshaltung: „Wir bringen die KI rein und alles löst sich.“ KI ist kein Zaubertrank — sie erfordert Training, Überwachung und Iteration.
- Unklare Governance & Datenschutz: Hosting, Datenzugriff und Compliance müssen von Anfang an geklärt sein.
„KI kann menschliche Fehler verstärken, wenn Trainingsdaten oder Zielsetzungen ungenau sind.“
Richard Mohr, KI-Experte
Worauf HR achten sollte
- Datenqualität: Schlechte oder inkonsistente Daten führen zu falschen Extraktionen und Fehlentscheidungen.
- Bias und Trainingsdaten: Prüfe Trainingsdaten auf systemische Verzerrungen.
- Overautomation: Automatisiere nur dort, wo kein zwischenmenschlicher Mehrwert verloren geht — ein Willkommensanruf sollte nicht automatisch durch eine generische Sprachnachricht ersetzt werden.
- Governance: Regelmäßige Reviews, Audit‑Logs und Verantwortlichkeiten müssen festgelegt sein.
- Change Management: Es braucht Menschen mit Lust auf Veränderung und die Bereitschaft, neue Arbeitsweisen zu lernen.
4 Phasen: So wird dein Projekt erfolgreich
Ein pragmatisches Phasenmodell für die Umsetzung:
- Phase 1 — Discovery (2–4 Wochen): Prozesse aufnehmen, Dateninventar, Stakeholder definieren.
- Phase 2 — MVP‑Design & Integration (4–8 Wochen): Kernfunktionen (Dokumentenverarbeitung, E‑Mail‑Parsing, Cockpit) entwickeln und anbinden.
- Phase 3 — Pilot (4–6 Wochen): Mit einem kleinen Team oder einer Abteilung live gehen, Feedback sammeln.
- Phase 4 — Skalierung & Optimierung (laufend): Modelle nachtrainieren, Prozesse erweitern (Payroll, Lieferanten, Ersttag‑Checklisten).
Fazit: KI kann das Onboarding deutlich vereinfachen
Die Digitalisierung des Onboardings mit KI ist kein Luxus mehr, sondern eine Antwort auf reale Marktanforderungen: kleinere HR‑Teams, höhere Compliance‑Ansprüche und veränderte Bewerbererwartungen. Wer jetzt sinnvoll investiert, gewinnt doppelt: sofortige Effizienzgewinne und langfristig eine attraktivere Arbeitgebermarke.
Wer den Initialaufwand nicht scheut, kann im Onboarding mittelfristig bis zu 80% des Aufwandes einsparen.

Die Autorin
Julia Lipok ist HR-Professional mit zwei Jahrzehnten Berufserfahrung. Sie begleitet Teams, Führungskräfte und Organisationen, die sich verändern wollen. Ihre Freizeit verbringt die begeisterte Sportlerin in den Bergen bei Skitouren oder Freeriden. „Mut kann man nicht kaufen, aber man kann mutig sein üben“, weiß sie aus eigener Erfahrung.